ZEITSCHRIFT KIZILCIK
Nr. 39, August 2010 Übersetzung: Christopher Kubaseck
In welcher Phase des Wandels befinden wir uns?Die Soziologie beschäftigt sich mit drei wichtigen Problemen. Zum einen geht es ihr um den Grund, warum sich Individuen, die aus sehr unterschiedlichen sozialen Strukturen stammen, zu bestimmten Themen in gleicher Weise verhalten und Ähnliches denken. Ihr zweites Thema ist der Grund der gesellschaftlichen Ungleichheit. Das dritte Thema sind die Eigenschaften der vom sozialen Wandel hervorgebrachten Kräfte und deren Wirkungsfelder. In diesem Aufsatz werde ich mich auf das letztgenannte Thema beschränken, auf die Frage also, welche Kräfte der soziale Wandel in der Türkei seit den 1960er Jahren hervorgebracht hat, und welche Dimensionen ihre Auswirkungen besitzen. Der Grund, warum ich den erwähnten “Wandel” als “sozialen Wandel” bezeichne, ist die Tatsache, dass man die vielfältigen Wandlungsprozesse in der Türkei gerne mit Hilfe der Ausweitungen und Entwicklungen in der Wirtschaft zu erklären versucht. Es ist nicht mein Ziel, die Ausbreitung der materiellen Kultur und Technik in der Türkei mit Hilfe von zahlenmäßigen Gegenüberstellungen oder der Statistik zu erklären, denn ich bin der Meinung, dass Zahlengrößen und materielles Wachstum uns keine Auskunft über die Quellen der kulturellen Stagnation, der antidemokratischen Entwicklungen und den Widerstand gegen den Wandel geben. Im Gegenteil, da man nur allzu gerne materielles Wachstum direkt mit “gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung” gleichsetzt, wird dies zum Grund, mögliche negative Entwicklungen der Zukunft zu übersehen. Betrachten wir uns die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts, so sehen wir, dass in vielen europäischen Ländern einem außergewöhnlichen Wachstum eine ebenso außergewöhnliche “Brutalität”, “Chaos” und ein “Niedergang” folgten. In den als Zentren der Kunst und Kultur bekannten Städten Europas tauchten mit einem Mal rassistische und faschistische Parteien auf, die erstarkten und abscheuliche Massenmorde begingen. Dass man hoffnungszerstörende Ereignisse dieser Art erleben würde, das ließ sich weder aufgrund wirtschaftlicher Zahlen, noch aufgrund der Anzahl von Theatersitzen, noch angesichts der hohen Zahl künstlerischer Veranstaltungen in jenen Städten vorhersagen, denn alle diese Angaben zeichneten ein sehr positives Bild. Auf der anderen Seite der Medaille jedoch konnte man erkennen, wie Subkulturen entstanden, die Hass und Wut ausbrüteten und ein gefährliches Maß an Aggressionspotential besaßen. Unter all der Kultur, der Kunst, der politischen Show, der prächtigen Entwicklung der Städte und dem Bohème-Leben lag eine nicht recht wahrzunehmende protofaschistische und militaristische Masse. Als diese Masse sich aufrichtete und die Macht ergriff, bewies sie der gesamten Welt, zu welchen Taten sie bereit war. Zwischen 1919 und 1945 mussten zunächst einige Regionen und später weite Teile Europas die Brutalität des Nazismus und des Faschismus in seinem gesamten Ausmaß erleben. Die von mir kurz angesprochenen Grausamkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielten sich in den am weitesten entwickelten und industrialisierten Ländern der Welt ab. Aus diesem Grund besitzen für mich bei der Analyse der Gegenwart Begriffe wie „Entwicklung“, die sich auf quantitative Daten stützen sowie die positiven Wertungen, die man auf sie gründet, keinen Wert, da sie uns bei unseren Einschätzungen nur in die Irre führen. Anstelle von Begriffen wie „Entwicklung“ habe ich mich lieber solchen wie „die Folgen sozialen Wandels“ zugewandt und ihnen gegenüber das Konzept des „Wandels“ vorgezogen. Kurze Anmerkung zum Begriff des sozialen Wandels Man weiß, dass die Klassenkämpfe als Katalysator für die Wandlungsprozesse wirkten, die während der Industrialisierung in der westlichen Welt stattfanden. Gleichzeitig müssen bei einer strukturellen Analyse auch die disruptiven und integrativen Momente der sozialen Wandlungsprozesse in gleichem Maße berücksichtigt werden. Zu diesen Punkten hat W. F. Ogburn (1886-1959) eine neue Systematik entwickelt. Er ist auch derjenige, der den Begriff des „sozialen Wandels“ in der Soziologie eingeführt hat. Ogburn weist in seiner Systematik auf zwei Seiten des Themas hin: „Zum einen entwickeln sich soziale Wandlungsprozesse in unterschiedlichen Lebensbereichen (Familie/Wirtschaft/Recht/Schulbildung, etc.…) mit unterschiedlichem Tempo und in unterschiedlichen Rhythmen; der eine kann eine schnellere Wandlung als der andere erfahren. Zum zweiten ist die Phasenverschiebung zwischen dem materiellen und dem sozio-kulturellen Wandel einer bestimmten Gesellschaft stets der Grund für Spannungen.“ Im Hinblick auf die zu unterschiedlichen Zeiten auftretenden Wandlungsprozesse geht Ogsburn noch weiter und sagt, dass die Wandlungsprozesse, die der gesellschaftlichen Entwicklung Auftrieb verleihen, im Allgemeinen auf technologisch-wirtschaftlichen Gründen beruhen, dass die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die den materiellen mit einer gewissen Verzögerung folgen, eher kultureller Natur seien. Ohne nun auf die Frage eingehen zu wollen, wie weit
Ogsburn in seinen Thesen Recht hat – eine Frage, der die
Soziologen nachgehen können, die aber zu weit außerhalb
unseres Themas liegt – möchte ich diese seine
Feststellungen in diesem Artikel stets vor Augen behalten.
Über spontane und geplante WandlungsprozesseDie industrielle Revolution in den westlichen Gesellschaften ist vollständig auf der Basis der sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen dieser Gesellschaften entstanden; in gewisser Hinsicht kann man sagen, dass die Industrialisierung im Westen geboren wurde, dort also endogen ist. Das ist auch der Grund dafür, dass der soziale Wandel, der im Laufe der Industrialisierung auftrat, relativ harmonisch verlaufen konnte. Doch während die anderen Gesellschaften ihre Industrialisierung durchliefen, mussten sie, und das gilt vor allem auch für die östlichen Gesellschaften, harte Kulturkonflikte durchmachen und erleben diese auch heute noch. Die Eigenschaften industrialisierter Gesellschaften konnten mit der traditionellen Struktur östlicher Gesellschaften nur schwer in Einklang gebracht werden, und vor allem in Ländern, in denen wie in der Türkei ein “geplanter sozialer Wandel” vorgesehen war, haben diese Kulturkonflikte noch stärkere Ausmaße erreicht. Der von den herrschenden Kräften geplante soziale Wandlungsprozess begann in der Türkei im Jahr 1923, in Japan bereits 1868, in China im Jahre 1912 und in Russland im Jahre 1917. Einige dieser Länder, zum Beispiel Japan, haben diesen Prozess als “Enkulturation” erlebt, d.h., sie haben die Industrialisierung und Modernisierung versucht, indem sie den Prozess ihrer eigenen Kultur adaptierten. Die Türkei hingegen sah es im Laufe der Modernisierung als erforderlich an, sich selbst der westlichen Kultur zu adaptieren, sich also, soziologisch ausgedrückt, zu “akkulturalisieren”. Sie hat sich also bemüht, sich einer Kultur anzupassen, die man noch bis vor kurzem als “fremd” empfunden hatte. In der zeitgenössischen Türkei wird der Rahmen der andauernden politischen Diskussionen weiterhin und in bedeutendem Maße von der Akkulturationspolitik bestimmt, die wir seit 90 Jahren verfolgen und mit deren Umsetzung wir uns erheblich schwer getan haben. Die unterschiedlichen Parteien dieser Diskussionen definieren sich in der politischen Praxis entlang dieser Achse. So haben die Kemalisten und Nationalisten die “Akkulturation” unter dem Namen “Kemalismus” übernommen und als Doktrin akzeptiert. Ihnen zufolge sind Personen, die die westliche Kultur nicht ohne Einschränkung akzeptieren und erfolgreich nachahmen, Konter-Revolutionäre, Rückständige und Theokraten. Diese beständig auf dem Weg des Modernismus voranschreitende kemalistische Herrschaftsform hat die Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, jederzeit erfolgreich einreißen können. Die Vertreter dieser Ideologie, die in ihrem Herzen nationalistisch ist, sich jedoch, da sie sich antiimperialistisch versteht, auch als “Linke” betrachten, nehmen die demokratischen Aspekte der westlichen Moderne weshalb auch immer überhaupt nicht wahr. Der Diskurs folgt eher einem nationalistisch-linken Jargon, gehört also in der internationalen politischen Szene eher in das national-sozialistische Lager. Diese Richtung birgt ein gerüttelt Maß an Fremdenfeindlichkeit, Introvertiertheit und Selbstmitleid in sich; darüberhinaus hat sie die Kollaboration mit dem Westen, den sie zum Fetisch erhoben hat, perfektioniert und betrachtet Personen, die mit dem westlichen System nicht einverstanden sind, geradezu als “Vaterlandsverräter”. Da die reinste Vertreterin dieser Strömung heute die Partei CHP (Cumhuriyetçi Halk Partisi, Republikanische Volkspartei, A.d.Ü.) ist, sollte man sich vergegenwärtigen, in welch schwieriger Lage sie sich befindet. So schwer es ist, antikapitalistisch zu erscheinen und doch der engste Kollaborateur des Kapitalismus zu sein, so viel Geschick erfordert es auch, als radikaler Konservativer, der keinerlei Veränderungen wünscht, und der der Gesellschaft eine klar definierte Ideologie aufzuzwingen sucht, sich gleichzeitig als der prominentester Vertreter des Wandels darzustellen. Die konservativ-liberalen Parteien, die dieser Richtung entgegenzustehen scheinen, sehen sich, um ihre Unterschiede zur CHP demonstrieren zu können, gezwungen, bei jeder Gelegenheit zu betonen, dass sie zum Thema “Akkulturation” anderer Meinung als jene sind. Sie fühlen den Druck einer breiten Wählerschicht, die über lange Jahre hinweg eine erzwungene Anpassung an eine ihnen vollkommen fremde Kultur durchmachen und ihr Haupt unwillig einer leicht verwässerten Modernisierung unter dem Namen “Verwestlichung” beugen musste. So bemühen diese Parteien sich, die Wählerschaft zu beruhigen, indem sie sich wenigstens des Gebets und des Gebetsrufs annehmen. Doch betonen diese konservativ-liberalen Parteien häufig, dass sie keinerlei Probleme damit haben, sich dem internationalen kapitalistischen System des Westens anzupassen und mit ihm zu kollaborieren, und deshalb auch weder mit der Modernisierung noch mit der damit verbundenen westlichen Kultur. So hat weder die Regierung noch die Opposition ein Problem mit dem westlichen Kapitalismus, und es wird auch in keiner Weise darüber diskutiert, ob man die sich rasant weiter entwickelnde materielle Kultur als Partner nutzen und für ein weiteres wirtschaftliches Wachstum und die Entwicklung des Landes sorgen will. Die Konflikte finden eher in den von Ogsburn angesprochenen Bereichen statt. Wie weit wird diese Gesellschaft, die die Vorzüge der akzeptierten und mit Leichtigkeit übernommenen technologisch-ökonomischen Entwicklung genießt und damit keinerlei Probleme hat, ihren sozio-kulturellen Charakter an den des Westens anpassen können? Ist sie dazu überhaupt angehalten? Was passiert, wenn das nicht möglich wird? Die Gesellschaft ist in dieser Hinsicht zögerlich,
unwillig, und hat sich – natürlich – in dieser Hinsicht
verspätet. In welcher Phase des Wandels befinden wir uns?“Sozialer Wandel folgt der technologisch-ökonomischen Entwicklung, erfolgt also nach ihr.Wir wissen, dass diese Feststellung keinesfalls den dynamischen Charakter des Wandels ausschließen will. Trotz allem nimmt der Wandel mit seiner ihm eigenen Geschwindigkeit seinen Weg, beeinflusst und verwandet den kulturellen Charakter der Gesellschaften, ihre Werturteile und ihre Lebensweise. Dabei besitzt der soziale Wandel kein Ziel, das er erreichen will, keine Phase, in der er innehalten und von seinem Ziel abgehen will. Wandel erfolgt ständig. Wir können lediglich seine gegenwärtigen Dimensionen untersuchen, können uns Gedanken darüber machen, welche sozialen Ereignisse und Kräfte der soziale Wandel gerade heute in der Gesellschaft hervorruft, und was in naher Zukunft auf uns wartet. Wenn es uns gelingt, können wir vor negativen oder auch chaotischen Entwicklungen warnen. Falls vorhanden, können wir ähnliche soziale
Wandlungsprozesse studieren, die zu anderen Zeiten und in
anderen Gesellschaften erlebt wurden, und aus ihnen
Voraussagen für unsere eigene Gesellschaft ableiten. Einen ähnlichen Prozess macht die Türkei seit den 1960er Jahren durch. Die massive Ankunft der Provinz in den Großstädten hat dem durch die Industrialisierung eingeleiteten sozialen Wandel einen eigenen Charakter verliehen, der zu entsprechenden politischen Ergebnissen führte. Die Provinzkultur ist sicherlich auch von der städtischen Kultur beeinflusst worden, doch haben einige Züge der Provinzkultur die unter der Landflucht leidenden Großstädte deutlich geformt. Und da die Vertreter der Provinzkultur dies nicht einmal wahrzunehmen in der Lage waren – da die von ihnen herangeschleppte Provinzialkultur ihre eigene Kultur ist, sind sie von ihren eigenen Gewohnheiten und Traditionen keinesfalls irritiert, sondern lassen sich vielmehr von den alteingesessenen Städtern irritieren – weiß der unter einem Kulturschock leidende Städter unter dem Einfluss der negativen Seiten des sozialen Wandels nicht, wohin er sich wenden soll. Diese “vom Wandel hervorgerufene soziale Kraft”, die wir seit fünfzig Jahren in allen unseren Städten erleben, ist es wert, sich ihrer noch ein wenig länger zuzuwenden. Meiner Meinung nach sind die Kräfte, die da frei wurden, die “Provinzialkultur” und die soziale und politische Struktur, die sie prägen. Um es zusammenzufassen: Das deutlichste Merkmal des
sozialen Wandels, den wir heutzutage erleben, sind die
“Provinzialität” und die starken Auswirkungen der ihr
zugehörigen Kultur auf das städtische Leben und die
Politik. Provinzialismus
Damit haben wir die Chance, zwei Gebiete zu Vergleichen,
in denen die “Provinzialität” in ähnlicher Form erlebt
wurde, die sich jedoch hinsichtlich ihrer kulturellen
Vergangenheit deutlich unterscheiden. Bei dem ersten
Gebiet handelt es sich um Deutschland, das die
Industrialisierung und den rapiden städtischen
Wachstumsprozess als Produkt der eigenen sozialen,
wirtschaftlichen und politischen Kultur erlebt hat, das
zweite ist die Türkei, die das westliche Modell der
Entwicklung durch Industrialisierung als Vorbild
akzeptierte und umzusetzen versuchte. Das gemeinsame
Problem, das diese beiden Länder mit unterschiedlicher
Kultur während ihrer Industrialisierung erlebten, ist,
dass die Bevölkerung der Provinz in recht kurzer Zeit in
die Großstädte abwanderte.
Auch wenn wir davon ausgehen, dass die von der Industrialisierung hervorgerufene Landflucht in den beiden unterschiedlichen Ländern eine Gemeinsamkeit geschaffen hat, so ist diese Gemeinsamkeit nicht auf diesen einzigen Punkt beschränkt. Auch wenn dieser Prozess zu verschiedenen Zeiten und unterschiedlich intensiv verlaufen ist, tragen die durch den in Folge der großen Landflucht aufgetretenen soziale Wandel hervorgerufene Provinzialität, deren Eigenschaften, sowie die auf ihnen aufbauende Definition eine große Ähnlichkeit. Der Grund, dieses Thema zu diskutieren, ist die Sackgasse, das Chaos, in die die Gesellschaft der Türkei getrieben werden, und der Wunsch, vor der ausweglosen Lage warnen zu wollen, in die der gegenwärtige politische Diskurs (damit meine ich sowohl den Diskurs der Regierung als auch und vor allem denjenigen der Opposition) die Gesellschaft zu treiben droht, indem er auch die zivilen Bereiche der Gesellschaft erfasst. Ich hoffe, dass der Blick auf die Zeitgeschichte und darauf, wie die gesellschaftlichen Zerstörungen, die zu verschiedenen Zeiten erlebt wurden, möglich werden konnten, einen ausreichend mahnenden Effekt haben werden. Ultranationalistische, ultrakonservative und rassistische politische Strömungen, die sich die Schwächen der Provinzialkultur zu Nutze machten, sowie die herrschenden Klassen, die diese unterstützen, werden heute wegen des Hasses, des Zorns, der Wut und der Rachgefühle, die sie den Vertretern der Subkulturen einredeten und schließlich so weit anfeuerten, dass sie auf ihrer Basis Massenmorde durchführen konnte, allerorts als beispiellose Monster der Menschheitsgeschichte verabscheut. In Europa, das in nicht allzu ferner Vergangenheit fast 60 Millionen Menschen in der Hölle des Krieges verloren hat, spricht aufgrund der erlebten unmenschlichen Brutalität kein vernünftiger Mensch mehr lobend von Dingen wie Rassismus, blindem Nationalismus, vernichtenden Siegen, Massenmorden, Despotismus oder Militarismus. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tritt in München eine von Adolf Hitler geführte, nationalsozialistische Bewegung auf, die sich unter dem Namen NSDAP zwischen 1923 und 1933 schnell entwickelt und letztendlich die Macht in Deutschland übernimmt. Die Parteizentrale liegt ebenfalls in München, wo die Partei gegründet worden war. Die NSDAP führt Deutschland in den Zweiten Weltkrieg und damit in ein Chaos, das zur vollständigen Zerstörung des Landes führte. Als der Krieg 1945 endet werden die Ereignisse, die zu ihm geführt hatten, unter die Lupe genommen und die letzten 25 bis 26 Jahre Europas untersucht. Eines der Themen, die etliche der Wissenschaftler und auch Schriftsteller unterschiedlicher beruflicher Herkunft am meisten interessieren, ist die Frage, wie es dazu kam, dass die nationalsozialistische Bewegung ausgerechnet in München entstand, vor allem, da der als “Preußen” bekannte Norden Deutschlands als wesentlich militaristischer und nationaler eingestellt galt. München dagegen war seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art Kunst- und Kulturhauptstadt Deutschlands und als solche in ganz Deutschland bekannt. Selbst Hitler gab dieser Stadt, nachdem er an die Macht gekommen war, den Namen “Kulturhauptstadt”. Das war also das Image Münchens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten einige der bedeutendsten Autoren und Künstler Deutschlands im Münchener Bohème-Stadtteil Schwabing, darunter Kandinski, Franz Marc, Paul Klee und A. Macke. Dort wurde die Richtung “Der Blaue Reiter” begründet, führende Jugendstil-Vertreter eben dort, und auch Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann, Brecht, Feuchtwanger, Toller, Mühsam, Becher, Huch, Ödön von Horvath, Oskar Maria Graf und viele andere. Neben ihnen war München auch die Heimat vieler Künstler aus den Bereichen Musik, Theater und Oper. Die Bohème Schwabings war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Anvantgarde des Modernismus, ja, man kann sagen, dass die Moderne dort ihr goldenes Zeitalter erlebte. Doch neben diesem kulturellen Reichtum barg München auch eine Menge Fanatiker, Radikaler und Krimineller in sich. Das war die dunkle Seite der Kulturhauptstadt. Dass dies auch die Brutstätte der Nazi-Bewegung werden konnte steht außerhalb jeder Diskussion. In München hatte die Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts dafür gesorgt, dass der erwähnte Zuzug vom Land einsetzte. Dabei hatte die Provinzialkultur für die Ausbildung einer protofaschistischen Grundlage in der sozialen Infrastruktur Münchens gesorgt. Vor allem die schweren wirtschaftlichen Bedingungen nach dem Ersten Weltkrieg und in der Folge Hyperinflation, Hunger und Arbeitslosigkeit hatten die Herausbildung einer Identität und die Entscheidung der Bevölkerung für eine vertrauenswürdige Regierung erheblich erschwert. So war die Bevölkerung für radikale Bewegungen des gesamten Spektrums empfänglich, entschied sich jedoch nach aufzehrenden Auseinandersetzungen schließlich für ein Regime, das ihr in Zukunft noch große Leiden bescheren würde. Diese Entscheidung der Münchener für die Nazis hat sie, aber auch ganz Deutschland, in die Katastrophe geführt. Das bestimmende Element in der politischen Entscheidung der Bevölkerung Münchens waren nicht die Vertreter des Humanismus der Bohème Schwabings oder die Vertreter der Moderne. Bestimmend war vielmehr die von einem groben Nationalismus geprägte Kritik des kosmopolitischen Lebens in einigen Teilen der Stadt, der Widerstand gegen eine freiheitliche und liberale Politik. Während die provinziellen Massen Feindschaft gegen die Künstler und Intelektuellen pflegten, Theater überfielen und die Aufführungen sabotierten, unterstützte die einheimische, wohlhabende Elite die gleichzeitig erfolgenden antidemokratischen Praktiken in der Politik – da es ihnen in den Kram passte – mit aller Macht. Dabei zogen sie nicht in Betracht, dass auch sie später zum Opfer werden könnten. Die Universitäten, die eine der wichtigsten Rollen bei der Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert gespielte hatten, waren zu Beginn der 1920er Jahre immer mehr unter die Vorherrschaft eines rassistischen Fanatismus, nationalistischer Hysterie und einer groben Provinzialkultur geraten. So konnte zum Beispiel Max Weber, einer der angesehensten Soziologen seiner Zeit, aufgrund seiner Kritik an Graf Arco, der den linken Politiker Eisner in einem rassistischen Angriff mitten in München ermordet hatte, von studentischen Nazi-Anhängern mit Gewalt aus dem Hörsaal vertrieben werden. Auch Albert Einstein, der 1920 von der Physikalischen Fakultät der Universität zu einem Vortrag eingeladen worden war, war aufgrund seiner jüdischen Herkunft gewarnt worden, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, dass er angegriffen werden könnte, so dass auch sein Vortrag von Nazi-Anhängern verhindert wurde. Die Fremdenfeindlichkeit hatte in den 20er Jahren in München ein solches Ausmaß angenommen und war so primitiv geworden, dass sich die Beleidigungen und Angriffe nicht nur gegen Personen richteten, die keine Deutschen waren, sondern auch Deutsche betrafen, die keine Bayern waren. Der Berliner Journalist Kurt Tucholsky, der München in jenen Jahren besuchte, schrieb in seinen Reisenotizen: “Die Bürokraten Bayerns, die Touristen und auch Deutschen von außerhalb Bayerns beim Besuch des Landes und vor allem München unglaubliche Schwierigkeiten bereiten, legen denjenigen, die die Bedingungen nicht erfüllen, diverse Strafen auf und verhalten sich allen Nicht-Bayern gegenüber feindselig. Für einen Norddeutschen ist es beinahe leichter Nicaragua zu besuchen als München. In München wird jeder, der keinen bayrischen Bierbauch (das ist ein ziemlich großer Bauch) besitzt, als “Fremder” behandelt. Das was diese Leute in München betreiben ist offene Preußen-Feindlichkeit. Diese Haltung macht deutlich, dass München die dümmste und engstirnigste Stadt in Deutschland und gleichzeitig eine der schlimmsten ihrer Art ist…” Ein übertriebener Regionalismus dieser Art und der von ihm erzeugte engstirnige Nationalismus verdammt dieses Land zusammen mit seiner Bevölkerung zu einer introvertierten, übertrieben konservativen und jedermann gegenüber misstrauischen Provinzialkultur. Mitte der 20er Jahre ist es den Nationalsozialisten gelungen, die kulturelle Atmosphäre Münchens zu vergiften. Damals beantragten die Nazis beim Landtag Bayerns, dem bekannten Orchesterchef Bruno Walter aufgrund seiner jüdischen Herkunft das Dirigieren der Werke von deutschen Komponisten wie Wagner und Beethoven verbieten zu lassen. Bertold Brecht, der 1918 aus seiner Geburtsstadt Augsburg nach München zieht, verlässt die Stadt, in der er anfänglich sehr glücklich war, 1924 und geht nach Berlin. Der Grund hierfür sind die Nazi-Gruppen, die die Aufführung seiner Stücke im Theater immer wieder sabotieren. Sie trommeln während der Aufführung mit den Füßen und stimmen Gesänge an, um Zuschauer und Schauspieler zu stören. München verliert so seine Eigenschaft als “Kulturhauptstadt” rapide und wird in späteren Wertungen als ein Stadt angesehen, die diesen Titel nicht verdient, der im Grunde irreführend war, da die prächtigen kulturellen Veranstaltungen der Stadt eher auf eine äußerliche Wirkung angelegt waren. Betrachtet man sich das kulturelle Leben der Stadt ein wenig kritischer, dann wird klar, dass es auch in der Vergangenheit eher oberflächlich und geistlos gewesen war. Es wurde auch die Meinung geäußert, das Kulturleben Münchens sei nicht nur oberflächlich gewesen, sondern habe auch keine Eigenständigkeit besessen sondern beruhte vielmehr auf oberflächlicher Nachahmung. Wenn München neben anderen auch der Titel der dümmsten deutschen Stadt beigelegt wurde, muss man überprüfen, wie sie das verdient hat. Fachleute, die jene Zeiten genau untersucht haben, führen die negativen Attribute Münchens auf seine talentlosen Politiker, engstirnigen Bürger, die konservative Presse, die weitverbreitete Fremdenfeindlichkeit und das grobe Verhalten der Sicherheitskräfte zurück. Während ich diese Beispiele aus einer berühmten Stadt in der Mitte Europas aus dem ersten Viertel des vergangenen Jahrhunderts auflistete, fielen mir unwillkürlich auch ähnliche Momentaufnahmen aus der Türkei ein. In der Politik sind die Auswirkungen der Provinzialkultur, die sich in unseren Städten immer stärker festgesetzt hat und dort immer stärker akzeptiert wird, deutlich zu sehen. Wir wissen, dass die Sicherheitskräfte und die zivile und militärische Bürokratie die politischen Bewegungen, die die unsteten Elemente der Landflucht zu organisieren und zu nutzen suchen, und unter dem Vorwand, das Vaterland schützen und retten zu wollen, Straftaten begehen, tolerieren, da sie dieselbe Geisteshaltung teilen. Wir werden Zeuge, wie die zu Robotern gewordenen Kader, die die Mentalität, die einen Hrand Dink ermordete, verantwortungslos nutzen, bei jedem sozialen und politischen Ereignis auftauchen. Zuletzt wurden wir Zeuge, wie ein Fußballfan in İnegöl lauthals “Hier ist İnegöl, hier lassen wir Euch nicht mehr weg!” schreiend einen rassistischen Angriff durchführte. Wir haben auch mit ansehen müssen, wie ein
faschistischer Mörder, der sein Hirn sein Leben lang nicht
einmal benutzt hat, unseren Nobelpreisträger Orhan Pamuk
drohend aufforderte, sich “vernünftig” zu verhalten. Wir haben auch eine aufgehetzte Menge erlebt, die in
einen Konzertsalon, in dem Beethovens 9. Sinfonie gespielt
werden sollte, eindrang und frenetisch “zuerst den Marsch
des 10. Jahrestages der Republikgründung!” brüllte. Und
damit wollen sie eigener Aussage nach das Vaterland
retten! Ebenso verfolgen wir, wie Personen, die bis dato als fortschrittlich, links-orientiert, intellektuell und künstlerisch angesehen wurden, sobald Diskussionen auf der Basis der Ethnie und der Religion zunehmen, plötzlich einen nationalistischen und rassistischen Diskurs annehmen und diesen auf dem Fernsehbildschirm präsentieren. Ebenso, wie viele der ehemals pazifistischen, antimilitaristischen und sozialdemokratischen Vertreter der Schwabinger Bohème-Elite nach dem Ausbruch des Kriegs Schlange standen, um sich freiwillig zum Militär zu melden, so sehen auch bei uns einige Künstler und Intellektuelle kein Problem darin, mit dem selben Reflex auf den Zug der rassistischen Bewegung aufzuspringen, sobald die politische Lage ein wenig heißer wird. Die nationalistischen und patriotischen, provinziellen Jugendliche, die man mit Stadtplänen Istanbuls in der Hand Molotow-Cocktails auf den Sitz des griechisch-orthodoxen Patriarchen werfen sieht, überfallen ein anderes Mal eine Fotografie-Ausstellung im Künstlerviertel Beyoğlu und zerbrechen die Rahmen der Bilder. Ein kurzes Gespräch mit den Tätern würde, da bin ich mir sicher, deutlich machen, dass keiner von ihnen zuvor auch nur eine einzige Ausstellung besucht hat und sich den Weg zum Ausstellungsgebäude in Beyoğlu hat beschreiben lassen müssen. Gerade so wie die jugendlichen Nazis der 20er Jahre, die das erste Mal in ihrem Leben ein Theater betraten, um dort einen Marsch zu singen und eine Aufführung Brechts zu sabotieren. Der Hass, die Wut und die Feindschaft, die die Münchener vor dem Krieg Berlin und den Preußen gegenüber empfanden, erinnern an ähnliche Gefühle, die in vielen anatolischen Kleinstädten gegenüber Istanbul empfunden werden. Das lässt sich leicht an den Ereignissen während Fußballspielen, den dort gebrüllten Slogans und den im Chor erfolgenden Beschimpfungen ablesen. Die Feindschaft gegenüber der Metropole entspricht der Feindschaft gegenüber der Kultur, die einem so fremd ist. Auch der Rassismus hat bei uns in den letzten Jahren bedenkliche Dimensionen angenommen. Das, was sich in allen Teilen der Gesellschaft in der von mir zu beschreiben versuchten Form an protofaschistischen Zügen angesammelt hat, wird nun auch von Intellektuellen und Künstlern genutzt. Die Türkei bewegt sich auf ein gesellschaftliches Chaos hin, und dabei findet der rassistische Diskurs allerorten neue Anhänger. Das lässt sich zur Zeit nur in wenigen Ländern der Welt beobachten. Doch bei uns ist der Rassismus eine Eigenschaft, die in vielen Kreisen des Lobes wert gefunden wird. Wir sind eines der wenigen Länder, in dem der Rassismus nicht nur nicht verboten ist, sondern auch noch Beifall findet; viele unter uns sind sich nicht einmal mehr im Klaren darüber, dass sie sich rassistische verhalten. Deshalb sollten Opposition ebenso wie Regierung so
schnell als möglich mit der Kritik ultranationalistischer
und ultrakonservativer Diskurse beginnen. Personen und Institutionen, die davon ausgehen, dass
sich demokratische Verbesserungen nicht mit ihren
Interessen decken, lassen sich gerne auf autoritäre und
totalitäre Bewegungen ein. Doch – und das hat man in der
politischen Geschichte bereits mehrfach erfahren – sehen
sich diese Personen und Institutionen im Allgemeinen sehr
enttäuscht, sobald diese Bewegungen vollständig an die
Macht kommen. |