“Erzählung aus dem Buch "Sey"
- Wenn Kulturen aufeinanderprallen - Übersetzung: Barbara Yurtdas/Orhan Aydin
DER BESUCH AUS CALIFORNIENEs war in den Jahren, als mein älterer Bruder im Ausland studierte. Eines Tages teilte er uns telefonisch mit, einer seiner liebsten Professoren sei emeritiert und wolle zusammen mit seiner Frau die Türkei und insbesondere Istanbul besuchen. Der Herr Professor werde natürlich unser Gast sein, und wir würden uns so um ihn kümmern, wie es sich für uns gehöre. Da gab es überhaupt keine Diskussion ... Nach Aussage meines Bruders waren die beiden etwa 75, nette alte Leute, gescheit und liebenswert. Nach einem über vierzigjährigen Arbeitsleben wollten sie als Pensionisten die Welt bereisen und Land und Leute außerhalb Amerikas kennen lernen. Die erste Station ihrer Reise sei Indien, doch auf der Rückreise wollten sie in Istanbul vorbeischauen. Nachdem wir erfahren hatten, an welchem Datum sie Istanbul erreichen würden, drehte sich zu Hause alles nur noch um das uns bis dahin völlig unbekannte alte Ehepaar, das ganz bald kommen sollte. Unser Haus in Üsküdar bereitete sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf den Empfang der Gäste vor. Mein Vater begann, Vorräte einzukaufen. Meine Mutter kam gar nicht mehr aus der Küche heraus, als wäre im Haus der Versorgungsnotstand ausgerufen worden. Es ging nicht darum, was die Amerikaner etwa gerne mochten oder nicht. Schon jetzt war klar, dass dieses alte Ehepaar sich nach uns zu richten hatte. Mein Vater, Mehmet Necip war unbestritten Herr des Hauses, und die Amerikaner konnten nichts dagegen tun. Gefüllte Paprika wurden zubereitet und im Kühlschrank verstaut. Auch (das Auberginengericht) imambayıldı(Imam in Ohnmacht) durfte nicht fehlen. Vom Gärtner in Berlerbeyi, Andon Efendi, wurden Salat und Gurken gekauft. Von Sezai kam eine Steige phönizische (Fenike) Orangen. Als der Vorratsraum nahezu voll war und der Krämer -der Schwarze Irfan-, seinen Laufburschen schickte, fünf Flaschen Raki abzuliefern, erfasste ich den Ernst der Lage und beschloss, mit meinem Bruder zu telefonieren. Meine Absicht war, die betagten Gäste, die wir erwarteten, irgendwie zu beschützen. Doch zu meinem Entsetzen erfuhr ich, dass mein Bruder ihnen Mehmet Necip als einen Vater von leicht gestrengem, eigensinnigem Charakter beschrieben hatte. Wenn sie es also gemütlich haben wollten, so sein Rat, sollten sie sich ihm möglichst nicht widersetzen - und das hatte der Professor meinem Bruder versprochen. Da war nun nichts mehr zu machen. Ich konnte nur abwarten. Dann kam der Tag (der Ankunft). Wir holten unsere Gäste vom Flughafen Istanbul ab und brachten sie wohlbehalten zu uns nach Hause. Sie waren rechtschaffend müde. Es war gegen Abend. Der Tisch wurde gedeckt und mit allen möglichen Vorspeisen bestückt. Mittendrin stand ein grüner Salat wie ein prächtiger Blumenkorb. Weißkäse und Gewürzgurken gab es, unter anderem die kleinen mondsichelförmigen thrakischen Pfefferschoten, die mein Vater so liebte –wer sie gekostet hat weiß, dass sie wie Feuer brennen-. br Die gefüllten Paprika in Olivenöl glänzten, und auf einer bootförmigen Platte war das für Menschen aus der westlichen Welt rätselhafte imambayıldı angerichtet. Nach einer Stunde des gegenseitigen Kennenlernens und Erzählens wurden die Gäste an den Esstisch gebeten. Zuerst gab es eine tarhana-Suppe ( getrocknete Mischung aus Mehl, Jogurt, versch.Gemüsen, Gewürz usw.), die lecker duftete. Es gelang uns einfach nicht zu erklären, was für eine Art Suppe das war. Danach wurde der Raki serviert, und man begann, unterstützt von kleinen, warmen Vorspeisen, die vielen verschiedenen Gerichte zu vertilgen, die auf dem Tisch standen. Schließlich kam der Augenblick, vor dem ich mich gefürchtet hatte. Als der Professor sein Raki-glas ausgetrunken hatte, wurde auf einen Wink meines Vaters das Glas erneut gefüllt. Der gute Mann erhob keinen Einspruch. Sobald sich sein Teller leerte, bekam er sofort etwas Neues draufgelegt. Nachdem man auf diese Weise einige Stunden lang gegessen und getrunken hatte, kam das Fleischgericht. Der Professor hatte wohl geglaubt, das Essen wäre zuende, doch er hatte sich getäuscht. Ihm wurde erklärt: „Dies ist das Hauptgericht.“ Nachdem auch die reichliche Portion taskebab(Gulasch) mit Püree verzehrt war, wurde der süße Nachtisch aufgetragen. Es gab keinen Einwand. Telkadayıf, ein durch einen dickflüssigen Zuckersaft angereicherte (Kuchen aus Teigfäden), der wie eine Pastete in Korkenzieherform angerichtet war, wurde zusammen mit einer fingerdicken Schicht (ungeschlagener) Sahne auf einen Sitz verspeist. Dann kam Obst und zuletzt ein türkischer Kaffee zur Entspannung ... Endlich nahte die Schlafenszeit. Wir zogen uns in unsere Zimmer zurück. Mein Vater war ein Mensch, der sofort einschlief, sobald sein Kopf das Kopfkissen berührte. Doch der Professor konnte leider nicht gleich schlafen. Die Fülle der verschiedenen Speisen, insbesondere aber der Raki, den er zum ersten Mal in seinem Leben getrunken hatte, hatten ihn völlig fertig gemacht. Als aus dem Gästebad Geräusche von Erbrechen und Stöhnen zu hören waren, tat es mir in der Seele weh und sehr leid. In dem Augenblick fasste ich einen Entschluss: Ich würde mich am anderen Tag beim Abendessen einmischen. Schließlich war es soweit. Wir setzten uns zu Tisch, und als Mehmet Necip nach einer Weile anfing, beharrlich den Teller des Gastes mit Essen und sein Glas mit Raki zu füllen, nahm ich all meinen Mut zusammen und wandte mich an meinen Vater mit ein paar Worten: „Vater, bitte, so zwing doch den Gast nicht, der Mann ist alt, er verträgt es vielleicht nicht ...“ (Auf türkisch natürlich). Mein Vater antwortete sofort und ohne verunsichert zu sein: „Schau, mein Junge, misch du dich mal nicht ein. Siehst du denn nicht, wie der Amerikaner innerhalb von zwei Tagen aufgeblüht ist.“ Der Professor verfügte über ein ausreichendes Einkommen und hatte kein Gesundheitsproblem. Er war (zwar) fünfundsiebzig Jahre alt, doch er wanderte jeden Tag, rauchte nicht und führte ein regelmäßiges Leben. Mein Vater rauchte täglich fünf Pakete Zigaretten und leerte jeden Abend eine kleine Flasche Raki. Er hatte sein Leben lang keinen Sport getrieben und hasste Wanderungen. Nach dem Studium war er zweimal zum Militär eingezogen worden, das hatte ihn fünf Jahre seines Lebens gekostet, danach war er fünfundzwanzig Jahre als Ingenieur auf Baustellen gewesen, hatte sein Leben auf der Baustelle und im Zelt verbracht. Die Frage war aber doch: Warum bemitleidete Mehmet Necip, der mit seinen sechzig Jahren älter aussah als der fünfundsiebzigjährige amerikanische Professor, diesen wegen seines disziplinierten Lebens, wie kam er darauf, jenem ebenfalls alten Lehrer einen anderen Lebensstil zu empfehlen?Mehmet Necip, Enkel des osmanischen Professors Necip Müderrisoglu , war Jahrgang 1914. Mit dreiundsechzig starb er plötzlich, nachdem ihn das Leben zu einem gelassenen Weisen geformt hatte, der maßvollen Genuss zu schätzen weiß. Orhan AYDIN, |