"Aus der Novelle –DER i-PUNKT- /
Orhan AYDIN / Zweiter Teil, Kap.III", 2003 Orginaltitel :“
KIRK KÜPÜN ALTINDAKI...“ (Der unterste Krug von den
vierzig Krügen) Übersetzung: Dr.Günter Seufert / Orhan
Aydin
Die langen Ohren des MidasWäre meine Mutter nicht erkrankt und hätte ich nicht einen Neurologen für sie rufen müssen, wahrscheinlich hätte ich die Ärztin Aliye Feridenie getroffen. So jedoch führte mich die Begegnung in längst vergessene Zeiten zurück und spülte eine Fülle von Erinnerungen aus den dunklen Winkeln meines Gedächtnisses ans Tageslicht, brachte die einzelnen Bilder eines Films wieder zusammen, die ich nach soviel Jahren ohne diesen Anlaß wohl niemals mehr zusammengebracht hätte. Jetzt erst begriff ich, wie sehr mich die Lehrzeit in Inler, die für mich längst vergangen und vorbei gewesen zu sein schien, die ganzen Jahre über geprägt hatte. Waren nicht viele Werte, die mich noch heute leiteten; das Erbe des MeistersBescher – meine Bindung an den Beruf, die Angewohnheit, alles um mich her in allen Einzelheiten zu studieren, im alltäglichen Ablauf von Naturereignissen Geheimnisse zu suchen. Es war, als hätte ich die Lehren meines Meisters mehr als mir schien verinnerlicht und sie stets beherzigt. Es war doch zu erstaunlich, daß mir dies Licht erst aufging, als ich mit seiner Tochter, Dr. Aliye Feride zusammengetroffen war. Das alles ging mir durch den Kopf und wieder fiel mir schmerzhaft ein, daß ich das Wort, welches ich dem Meister Bescher gegeben hatte nicht eingehalten habe. Sobald ich mit der Schule fertig sei, versprach ich damals, käme ich ihn besuchen. Bis gestern hatte mich der Wortbruch nicht beschäftigt. Ich hatte mich damit herausgeredet, daß man so etwas in solchen Fällen eben sagt, aus Höflichkeit gewissermaßen. Heute dagegen wurmt mich die Sache kräftig, nicht nur, daß ich mein Wort gebrochen habe, mehr noch, daß ich meinen Meister nicht mehr gesehen habe. Ein Grund dafür war sicherlich, daß mein Beruf mich in weit entfernte Städte geführt hatte, und ich nicht nur weit ab von Inler lebte, sondern auch weit entfernt von meiner Heimatstadt, in die ich erst wieder zurückgekehrt bin, als ich bereits ein Rentner war. Mehr als fünfhundert Kilometer trennten die große Teigwarenfabrik, in der ich Betriebsleiter war, von meiner Heimatstadt. Es war ein Riesenunternehmen, das mit der Mühle inInler in keiner Weise zu vergleichen ist. Ich hatte mich dort in die Arbeit so vertieft, daß mir die 36 Jahre, die ich dort tätig war, gar nicht so lange vorgekommen waren und ich erst jetzt begreife, wie schell die Zeit vergangen ist. Ja, die Zeit... Manchmal spüren wir die Zeit ziemlich intensiv, wie sie unseren Alltag unter Druck setzt und unser Leben formt. Man kriegt sogar das Gefühl, als könnte man sie anfassen oder umarmen. Dann wieder scheint die Zeit kaum gegenwaertig und wir scheinen ganz ausserhalb von ihrem Lauf zu stehen. Man kann sie nicht riechen, schmeckt nach gar nichts und macht sich kaum bemerkbar. Es sei denn, dass wir ab und zu Mal einen Blick in den Spiegel werfen. Nur dann wird uns erst bewusst, wozu sie überhaupt da ist. Es ist eigentlich uns überlassen, wie wir die Zeit erleben. Möglich ist es auch, dass wir uns überhaupt nicht um sie kümmern. In dem Falle könnte man sogar behaupten, es gaebe keine Zeit. Nur wer versucht, wie ich, die Zeit gewissermassen festzunageln und sie sich dann in aller Ruhe zu besehen, gewinnt ein tieferes Gefühl für sie. Um als Rentner nicht gleich zu rasten und zu rosten habe ich angefangen, Dinge zu tun, die ich schon immer hatte tun wollen. Ich sammele Informationen über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte meiner Heimatstadt, besuche archäologische Museen, befrage die Historiker der Universität und laufe Moscheen, Grabbauten und Derwischklöster ab. Ich strolche durch die Altstadt und verfolge den Verlauf auch ihrer kleinsten Gassen. Als ich erfuhr, daß meine Heimatstadt in der Antike ein altes Zentrum des Töpferhandwerks, der Vorratshaltung und der Müllerei gewesen war, entwickelte ich noch mehr Energie. Ein Anthropologe bin ich freilich nicht und auch kein richtiger Historiker, und daß ich systematisch vorgehe, kann ich nun wirklich nicht behaupten. Was ich tue, ist eine Mischung aus Zeitvertreib und Interesse: |