“Erzählung aus dem Buch "Sey" Originaltitel: "eski Cinarsokak" Übersetzung: Barbara Yurtdas/Orhan Aydin
Die alte PlataneEs gab mal eine Zeit, da wohnten alle, die mir nahe standen, in Istanbul im Stadtteil Beylerbeyi, und zwar in der Platanenstraße. Für diejenigen, die sich in Istanbul nicht besonders gut auskennen, muss ich erklären, dass Beylerbeyi eine Kleinstadt am Ufer des Bosporus ist. Wie alle Kleinstädte am Meer hat auch Beylerbeyi einen Landungssteg, und der Platz am Landungssteg ist, wie in allen derartigen Städtchen, auch hier das Zentrum, auf das alle Straßen münden. Anders als bei Kleinstädten, die nicht am Meer liegen, befindet sich bei solchendas Zentrum am Rand, nicht in der Mitte. Die Häuser meiner beiden Großväter stehen immer noch hier. Meine Erinnerungen an Beylerbeyi sind die umherziehenden Straßenhändler der 50er Jahre, der Fischverkaeufer, der Leber-Händler, der Bäcker, der mit seinem zu beiden Seiten mit Brotkästen beladenen Esel das ganze Viertel versorgte, und der Gemüsemann, dessen Pferd eine Kiepe auf dem Rücken trug. Wahrscheinlich war ich damals fest davon überzeugt, dass diese Leute, selbst wenn die Welt stehen bliebe, weiter an unserer Haustür vorbeizögen. Ich muss daran nicht im geringsten gezweifelt haben. Wenigstens habe ich, soweit ich mich erinnere, ihre Existenz keinen Moment in Frage gestellt. Wie denn auch? Sie würden bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag da sein, es gab einfach keinen Anlass, dies in Frage zu stellen. In gewisser Weise hat sich der Mensch zu allen Zeiten mit dem Gedanken an die Vergänglichkeit und die Unbestimmtheit der Existenz herumgeschlagen, eben sowie mit der Unendlichkeit und der Transformation, die endgültig und unbegrenzt ist. (Manche nennen es den Tod- .) Auch wenn es einen erheiternden Aspekt hat, sich, ausgehend vom Fischverkäufer, in der Unendlichkeit des Weltalls zu verlieren, so befürchte ich doch, ich komme vom Hundersten ins Tausendste. Deswegen möchte ich den Begriff der ‚Unendlichkeit’, der uns nur allzu schnell in eine philosophische Diskussion verwickeln würde, jetzt beiseite lassen und mich stattdessen wieder dem Bild der Platanenstraße zuwenden, wie es in meiner Phantasie lebt. Das halte ich für den besten Weg, um uns selbst zu finden auf eine Weise, die auch unsere Vergangenheit einschließt, statt uns zu verlieren. Das Interessanteste in unserem Wohnviertels war der Platanenbaum, der der Straße den Namen gab. Denkt man bei dem Namen ‚Platane’ etwa an plumpe, abstoßende oder unsympathische Dinge? Nein, im Gegenteil, die Platane ist ein hoher, prachtvoller Baum, der um sich herum dichten Schatten und Schönheit verbreitet ... Er weckt in uns keine seltsamen Vorstellungen wie die Rosskastanie, die Zitterpappel, der Faulbaum. Wenn eine wichtige Persönlichkeit stirbt, hört man oft sagen: „Eine Platane ist umgestürzt ...“ Wird aus irgendeinem Grund der Platanenbaum erwähnt, dann lässt man es nie an Ehrerbietung fehlen. Das ist heute so wie früher auch. Zwar äußert man sich über die Platane theoretisch höchst respektvoll, doch zu diesem Sprachgebrauch passte das Benehmen der Bewohner des Viertels im unmittelbaren Umgang überhaupt nicht. Die Kinder kletterten auf ihr herum, befestigten Schaukeln. Betrunkene pinkelten sie an, und ausgewachsene Männer entzündeten unter ihr Feuer, um Picknick zu veranstalten. Autos und Lastwagen rammten sie ... Trotz aller Verehrungswürdigkeit wurde unsere arme Platane gehörig schikaniert. Schließlich und endlich ließ die Stadtverwaltung die Platane fällen, und das Platanenproblem der Platanenstraße war somit gelöst. Als ich neulich einmal einen von unseren Nachbarn traf, fragte ich ihn, was mit der Platane passiert sei. Der erklärte mir: „Sie war schon ziemlich vertrocknet und tot. Wie ein Gespenst hat sie mitten auf der Straße gestanden. Gut, dass man sie gefällt hat ...“ So musste ich wieder einmal einsehen, wenn auch spät, dass nicht die Platane als solche verehrungswürdig war, sondern diejenigen, die ‚wie Platanen’ sind. Selbst wenn es auf der ganzen Welt keine einzige Platane mehr gäbe, täte das ihrer Verehrungswürdigkeit keinerlei Abbruch. Ich bin sicher, wir sind einer Meinung, dass dies ein seltsamer Gedanke ist. Sicher seltsam, doch bei wem oder worin dessen Seltsamkeit liegt, das weiß ich nicht. ........................In meiner Kindheit hatte die alte Platane in unserer Straße für mich noch eine andere Bedeutung. Der prächtige Baum stand sozusagen sinnbildlich für zwei wichtige Zielpunkte. Von der Platane aus in Richtung Anlegestelle hinunter befand sich der Kaufladen von Yorgos; in die andere Richtung hingegen ging es zum Obstgarten von Andon Efendi. Fast jeden Tag schickte mich meine Großmutter zu beiden zum Einkaufen. Die Wohnung von Onkel Yorgos lag über seinem Laden. Madame Alexandra, die Frau von Onkel Yorgos, rief mich jedes Mal hinauf, wenn sie mich erblickte, und bot mir Tee und Ostergebäck an. Kann man wohl den Duft des Ostergebäcks vergessen? Meistens packte sie ein paar Scheiben davon für meine Mutter ein. Tante Madame hatte in unserer Familie einen besonderen Platz. Nach dem, was erzählt wurde, war der Grund dafür wohl, dass Madame Alexandra meinem älteren Bruder das Leben gerettet hatte. Madame soll meinen vierjährigen, reglos mit hohem Fieber daliegenden Bruder gepackt und zu dem damals berühmten Doktor Paisios gebracht haben - gerade noch rechtzeitig, wie der Arzt später zu meiner Mutter gesagt hatte. Noch später wäre es womöglich zu spät gewesen. Madame Alexandra war außerdem die Amme meines Bruders. Dass Alexandra und mein großer Bruder einander noch Jahre später besonders zugetan waren, hatte somit einen Grund. Die Familie Yorgos und Alexandra Papadapulu wurde aus Istanbul nach Saloniki in Griechenland verbannt, einzig und allein, weil sie keine Türken und Muslime waren - ohne weitere Begründung - (und zwar) durch die Mentalität einer Bande, die es nicht einmal der Mühe wert hielt, eine solche Begründung aufzuzeigen. Dennoch blieb die Familie Papadopulu, die in höchstem Maße belästigt, geängstigt und aus dem Land getrieben worden war, mit meiner Großmutter im Briefwechsel, solange ihre Hände einen Stift halten konnten. Nach den Briefen zu schließen, war Madame Alexandra fünfundsechzig, als sie aus Heim und Land vertrieben wurde, und ihr Mann Yorgos war wahrscheinlich noch älter. Madame spricht davon, dass Yorgos unter schwerem Rheuma litt, und an einer Stelle ihres Briefes schreibt sie: „Als wir von Istanbul hierher kamen, hatte Yorgos überhaupt keine Schmerzen. Es schien, als hätte er seine Beine dort vergessen; als es aber Winter wurde und kälter, konnte Yorgos die Schmerzen nicht mehr ertragen und wurde bettlägerig. Sie haben unser Haus, unser Geschäft in Beylerbeyi geplündert, wir haben alles dort gelassen und sind hierher gekommen. Jetzt wissen wir kaum, wie wir die Miete bezahlen sollen. Ich weiß nicht, was wir in unserem Alter noch arbeiten sollen und wovon wir leben sollen.“ Es sieht so aus, als hätte meine Großmutter trotz ihres vorgerückten Alters die Briefe von Madame Alexandra beantwortet. Doch als Großmutter wegen eines Beckenbruchs operiert worden war und nur schwer gehen konnte, stolperte sie eines Tages und wollte sich, um nicht hinzufallen, am Ofen festhalten, der mitten im Salon installiert war, so dass sie sich die rechte Handinnenseite so stark verbrannte, dass die Finger zusammenwuchsen. Von da an diktierte meine Großmutter die Briefe einem jungen Mädchen aus Samatya, das griechisch schreiben konnte. Dies rührte Madame Alexandra zutiefst, und sie wollte der ihr gänzlich unbekannten Vasula danken. Ihr Brief lautet: „Liebe Vasula, Brieflich küsse ich Dich vielmals und sende Dir zum Neuen Jahr meine besten Wünsche. Ich hoffe, es wird glücklich, gesund und gesegnet. Wenn Du studierst, wünsche ich Dir einen wachen Intellekt, wenn Du aber berufstätig bist, wünsche ich Dir für deine Arbeit alles Gute. Wenn Du einmal erwachsen bist und ins Brautalter kommst, wünsche Dir ein glückliches Los. Gott möge Dir alles schenken, was Du Dir wünschst. Ich finde keine Worte, um Dir zu danken, dass Du mir zuliebe und für Hidayet, weil sie nicht schreiben kann, Dir die Mühe gemacht und mir einen Brief geschrieben hast. Tausend Dank. Zum Schluss möchte ich Dich noch und noch einmal voller Liebe küssen. Alexandra“ Inzwischen gibt es in der Platanenstraße weder eine Platane, noch eine Alexandra und einen Yorgos, und auch keinen Andon mehr. Auch der Ort, wo die Platane stand, ist nicht mehr wichtig. Es ist auch zweifelhaft, ob das Zentrum des Städtchens der Platz an der Schiffsanlegestelle ist, denn der Landungssteg von Beylerbeyi ist nutzlos geworden. Seit Jahren schon hat dort kein Dampfer mehr angelegt. Wir können auch nicht mehr sagen, dass alle Straßen auf den Platz beim Landungssteg münden.Denn die Umgehungsstraßen der Bosporusbrücke haben wie ein Ungeheuer Beylerbeyi begraben, erdrückt; besser gesagt, sie haben das Städtchen wie eine Riesenkrake mit ihren Fangarmen umwickelt, umklammert, eingenommen, aufgehoben und weggeworfen. Niemand wird je wieder den Duft von Madame Alexandras Ostergebäck einsaugen, erschnuppern. Für alle, die diese Atmosphäre nie mehr spüren werden, tut es mir leid ... Ich jedoch bin so glücklich, dies alles wenigstens in meinem Geist aufleben lassen zu können. ORHAN AYDIN: |