“Leseprobe aus dem Roman "Zweite
Haltestelle" Originaltitel: "Ikinci Durak" Übersetzung: Christopher Kubaseck
Sokrates' Lokal
Wie sagt es doch das Volkslied: ,,Nicht ich bestimme mein
Schicksal, sondern der Wind, so liess ich mich eben
treiben..." Es war, als triebe der Wind Memed vor sich
hin. Nach Mitternacht war auch kaum noch ein Lokal offen.
Zuhause haben sie sich bestimmt schon alle schlafen
gelegt, zog es ihm durch den Kopf. Da würde es auch nichts
mehr ausmachen, ob er nun gleich nachhause ginge, oder
erst in zwei Stunden. Einen Moment lang kam ihm der
Bürgersteig bekannt vor. Da war er doch auch kürzlich
nachts langgelaufen. Die selben Lichter, der gleiche
verrostete Strommast, der von einem Lastwagen
krummgestossen worden war. Ein Ladenschild mit der
Aufschrift ,,Mehl und Kleie". Er hob den Kopf und sah sich
die Laden auf der ge-genüberliegenden Strassenseite an.
,,Ja, das ist die Strasse oberhalb derjenigen, die zum
Lokal von Sokrates führt," freute er sich. Das Lokal blieb
manchmal bis in die frühen Morgenstunden hinein offen.
Sokrates war ein ehemaliger Kommunist. Nach der Auflösung
der KP hatte er sich nicht mehr politisch engagiert. Er
war nur noch daran interessiert, ,,die Ehre der Linken" zu
verteidigen.
Memed war sich nicht sicher, ob er in das Lokal gehen
sollte. Eben noch in der Taverne hatte er eine Reihe von
Entscheidungen über seine politische Zukunft getroffen. Er
wollte eine Weile untertauchen, die Nachwirkungen des
verlorenen Kongresses vergessen lassen und dann einen
Neubeginn versuchen. Wenn er jetzt in das Lokal Sokrates'
ging, würde er sich dann nicht wieder direkt in die
Politik hineinstürzen? Seine Konkurrenten hatten sich
bestimmt dort versammelt, um den Ausgang des Kongresses zu
bewerten. Doch trotz dieser Überlegungen bewegten sich
seine Beine fast willenlos und führten ihn direkt zur Tür
des Lokals. Da sah er ein, dass man in solchen Situationen
nicht immer vollkommen logisch handeln kann, Im Grunde war
ihm das Getratsche um die Wahlen ohnehin nicht so wichtig.
Die waren nun schliesslich vorüber. Jetzt musste er sich
um das Problem "Sinsi' kümmern, dass seine Gedanken immer
noch beschäftigte. Das war schon im Hinblick auf die
politischen Beziehungen von Bedeutung, die er von nun an
knüpfen würde. Sinsi war schliesslich die Person, die ihm
im linken Flügel am nähesten stand. Wenn er wirklich als
Kandidat seiner Partei aufgestellt werden und dann zum
Abgeordneten gewählt werden wollte, dann musste er sich
trotz allem Vorgefallenen gut mit ihm stellen.
Denn mit diesen Flügel konnte er sonst keinerlei Kontakt
knüpfen und Anhänger sammeln. Das war die Grundlage seiner
neuen Strategie. Hatte er sich nicht gerade eben noch
etwas versprochen? Das er von nun an keinen Fehler mehr
begehen wolle? Trotzdem gestand er sich ein, dass es ein
Fehler war, gerade jetzt in dieses Lokal zu gehen.
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